Der Schriftsteller Rafik Schami hat 2011 den Preis „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ erhalten. Damit zeichnet die gleichnamige Vereinigung den großen Einsatz des Autors für Demokratie und Menschenrechte aus.

In der Begründung der Jury für die Wahl des Preisträgers heißt es: „In seinem Werk und in der Öffentlichkeit tritt Rafik Schami mit seiner ganzen Autorität für die Verwirklichung von individuellen Freiheits- und Minderheitenrechten ein. Wir würdigen sein beständiges Engagement für einen respektvollen Dialog der Kulturen.“ Der Vorsitzende von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., Joachim Gauck: „Rafik Schami setzt sich seit Anbeginn seines Schaffens mit Leidenschaft für die Demokratie ein. Seit Jahrzehnten nutzt er sein großes erzählerisches Talent auch dafür, die Geschichte, die Strukturen und die Auswüchse von Diktaturen bloß zu legen. Natürlich im Hinterkopf: die Hoffnung auf mehr Freiheit in Syrien. Doch in Deutschland schaut er genauso aufmerksam hin und sagt den Bürgern mitunter: Nein, so bitte nicht. Dabei nutzt Rafik Schami nicht den Zeigefinger, er erzählt spannend und mit Humor und kann so bei den Menschen mehr erwirken als mancher Politiker.“

Laudatio auf Rafik Schami

„Vom Wetzen der Zunge“: Laudatio auf Rafik Schami zur Verleihung des Preises „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ am 30. Oktober 2011

„Wir erfahren die Geschichten, die das Leben für uns schreibt, am eigenen Leib und können ihnen nicht entkommen – manchmal sind wir Handelnde in schönen Geschichten, mit einer solchen will ich beginnen. Stellen Sie sich vor:
Ein schöner Sommermittag in Berlin an einem Bistrotisch an der Spree, ich erzähle dem mir gegenübersitzenden Kulturredakteur der Deutschen Welle von meiner Lektüre aus der Feder Rafik Schamis,  und zu meinem Erstaunen greift er meine Erzählung auf und berichtet ganz selbstverständlich und begeistert ebenfalls von den Büchern Rafik Schamis. Ein Paar besetzt den Tisch neben uns, die Frau befördert aus ihrer Tasche ein Buch, das sie gerade gekauft hat, der Autor auf dem Buchdeckel: Rafik Schami. Wir lachen und erklären unser Lachen den beiden Unbekannten und erfahren im Gespräch, dass unsere zufälligen Tischnachbarn im vergangenen Jahr eine Reise nach Damaskus und Malula gemacht haben – inspiriert von Rafik Schami. Und wir reden eine Zeit lang mit Fremden über die Bücher dieses Autors, der mit seinem Erzählen Brücken baut zwischen Welten und zwischen den Menschen, die er ins Gespräch miteinander und damit auch in den Dialog mit sich selbst bringt.

Erzählend baut Rafik Schami Brücken, die über den eigenen Denkhorizont hinaus führen. Die lesbare Liebe zur Sprache als künstlerischem Medium erschließt neue Räume der Imagination und entführt in die Sinnlichkeit fremder Gegenden, in die Geschichten anderer, die selbst erlebte und am eigenen Leib erfahrenen Geschichten vervielfältigen und bereichern.

Rafik Schamis Bücher öffnen  – weil sie so lustvoll erzählen – Sehnsüchte,  mit Sehnsucht erfüllt, geraten wir auf eine angenehme Weise ins Nachdenken über uns selbst und die eigene Beschränktheit, die zwangsläufig entsteht, wenn wir uns aus dem Radius der eigenen Lebenswelt und der im eigenen Alltag erworbenen Denkwelt nicht hinausbewegen. Sehnsucht bedeutet auch Energie der Neugier auf Fremdes – Sehnsucht baut Brücken – auch unglaubliche Brücken.

Rafik Schami lebt im Exil und hat sich als „Fremder“ die fremde Sprache des Gastlandes angeeignet. Seine Literatursprache ist die für ihn fremde Sprache Deutsch. Es ist die Sprache des Landes,  in das ihn das Schicksal verschlagen hat, und mit der Sprache hat er sich seinem neuen Land nicht nur angenähert, er hat es sich sprachlich angeeignet – er  hat sich mit der Sprache die Fremde  vertraut gemacht, um zu begreifen, wie hierzulande gedacht wird, wie gehandelt wird. Erst ein solches Verstehen kann die Erfahrung der Fremde als Bereicherung verarbeiten und die Distanz von außen nutzen, um die Unterschiede nicht einfach nur negativ zu empfinden, sondern auch darüber lachen zu können.

Rafik Schami  weiß, dass man Geduld und List braucht, um eine fremde Sprache zu erobern, durch das Erlernen einer neuen Sprache, schreibt er, wird die Identität, die man mit der Muttersprache erworben hat nicht „gespalten oder geht gar verloren, sondern sie wird komplizierter und bunter“.

Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren, seinen Namen Suheil Fadél (der Tugendhafte!) änderte er, als er in Deutschland zu publizieren begann: Rafik Schami bedeutet der Damaszener Freund, diesen Namen erfand er sich bereits als er in Syrien im Untergrund für die kommunistischen Partei ein Jugendzeitschriftenprojekt erarbeitete, was aber bald als zu offen und aufklärerisch eingestellt wurde. Rafik Schami floh aus seinem Land vor Militärdienst und Zensur – er floh aus dem Verbot des freien Sprechens in eine fremde Sprache, die er nach einiger Zeit der Sprachlosigkeit im Exil überwand, indem er sich diese neue Sprache einverleibte – ich bin versucht, zu sagen einverherzte, bis er als Schriftsteller zu dem wunderbaren Satz finden konnte: „Ich beherrsche die Sprache nicht, ich liebe sie.“ Damit sind wir beim künstlerischen Leitmotiv von Rafik Schami: Erzählen als Ausdruck von Freiheit. Diktaturen verbieten die Freiheit des Sprechens und der Meinungsäusserung, Denken aber artikuliert sich mit Sprache – das Sprechen zu verbieten, heißt Denken zu verbieten, damit wird das Selbstbewusstsein des  Menschen zerstört und seine Würde verletzt.

In seinem jüngsten Buch „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“ artikuliert Rafik Schami das Schweigen der Geknechteten und Bedrohten so: „Wir wissen, dass Demokratie für ihr Bestehen mündige Bürger braucht. Das ist keine poetische Übertreibung. Laut Verfassung sind die Bürger der Souverän des Staates. Und sie werden umso kritischer, je besser sie zu hören, zu sprechen und damit ihre Gedanken auszudrücken wissen. Sprechen ermöglicht Solidarität und Widerstand gegen Machtmißbrauch. Auf Dauer verliert der schweigsame Bürger seine Mündigkeit“. Rafik Schami hat sich geweigert, seine Mündigkeit  aufzugeben, aber er musste seine Heimat verlassen, um die Chance des freien Sprechens zu retten. Der mündige Mensch lässt sich den Mund nicht verbieten – er sucht und findet die Sprache, die er nutzen kann zur freien Äußerung seiner Meinung und Position.

Heute haben  Befreiungsbewegungen  ein neues Sprachrohr gefunden: Das Internet hat sich mehr und mehr als unkontrollierbares Medium zur Kommunikation erwiesen – im Guten und im Schlechten – jedenfalls für die Machthaber nicht mehr ohne weiteres zensierbar. Natürlich wird hochtourig an Zensur-Software getüftelt, in der westlichen Welt zum Schutz für Kinder, gierig aufgegriffen und weiterentwickelt von Ländern, deren Machthaber Zensur ausüben wollen.

In Nordafrika nutzten und nutzen junge Menschen diese Freizone für ihre Rebellion. Ich benutze das Wort Rebellion gerne, weil Rafik Schami mit Bezug auf den Rebellen Jesus die Rebellion beschreibt als „nichts anderes als eine Sehnsucht nach Veränderung und eine Ablehnung des Stillstands.“ Die Revolution im heutigen Syrien erhebt sich gegen eine mafiöse Sippenherrschaft, die Reformen nicht zulassen und keine Kritik dulden kann. Die Macht gründet sich auf Korruption und Gewalt. Jede Änderung würde sie zu Fall bringen – die Hoffnung auf Änderung ist größer denn je.

Im Exil hat Rafik Schami seine Heimat nie aus dem Herzen gelassen – er hat sich die fremde Sprache angeeignet, um von seiner Heimat zu erzählen, aber eben auch um in seinen Essays und in seinen Geschichten die Missstände in seinem Land anzuprangern. In seinem großen Epos „Die dunkle Seite der Liebe“, erzählt er Geschichten aus 110 Jahren. Der Roman ist ein Mosaikbild aus 304 Steinen, eine Liebeserklärung an das Land und seine Menschen, er erzählt von den unterschiedlichsten Spielarten verbotener Liebe und Blutfehden, er berichtet aber auch von der absurden Geschichte der politischen Putsche, von Korruption, vom Geheimdienst, von Verfolgung und Denunziation, von Folter und menschenverachtenden Lagern. Mitten im Leben – im Leben, das um die eigene Mündigkeit ringt, landet Farid, einer der Protagonisten der Saga im Lager, wo Menschen mit  Schlägen, Hunger und Demütigungen entmenschlicht werden sollen.  Wie lassen sich solche Situationen überhaupt überstehen? Wie lässt sich menschliche Würde behaupten, wenn man zum Tier gemacht wird? Rafik Schami gibt die Antwort, es ist die Macht der Worte, die Widerstandkraft durch Sprache, durch Sprechen, durch Erzählen. Die Sprache ist das letzte Instrument, menschliche Würde zu bewahren. Die Gefangenen im Lager sprechen über das, was sie wissen, kennen und was zu ihrem Leben gehört; dieses Sprechen wahrt ihnen das Selbstbewusstsein gegen die Folter und Erniedrigung, Worte sind das Mittel zum gemeinsamen Widerstand – das Sprechen macht die Gemeinschaft erst möglich, aus der Widerständigkeit wachsen kann. Worte sind das Mittel, um Distanz zu finden zwischen Menschsein und versuchter Entmenschlichung. Die Sprache lässt in andere Welten fliehen, in Welten der Selbstbehauptung, Sprache erlaubt  aber auch die bewusst gemachte Distanz durch die Beobachtung des Geschehens, das einen vernichten soll. Bewusste Wahrnehmung gibt uns Menschlichkeit zurück. Herta Müller schreibt anlässlich des gerade in Deutschland erschienen Buches von  Liao Yiwu darüber, wie das kaputte Nervensystem am Nullpunkt der Existenz einen Beobachtungszwang zur Lebensrettung erzeugt. Sie schreibt „Die widerwärtige Nähe, in die man in Lagern und Gefängnissen gepfercht ist, wird durchs besessene Fixieren noch quälender. Der Beobachtungszwang zerrt jedes Detail ins Persönliche, frisst die letzte Kraft, die man für sich selbst brauchte. Und trotzdem ist dieser Beobachtungszwang eine Gnade, weil er die Menschlichkeit erhält… Wer beobachtet ist zur Hälfte außerhalb, auch wenn er ganz drin ist. Und da, wo Verwahrlosung und Vegetieren ein befohlener Zustand sind, wird Beobachten zur einzig möglichen geistigen Beschäftigung. Die Wahrnehmung ist eine Qual und die Qual der Wahrnehmung ein Gnade“ 5 . Rafik Schami beschreibt in den Kapiteln über das Überleben in Lagern die Kraft der beobachtenden Distanz – er schreibt aber auch von der Kraft, die stark macht, wenn sie sich sprechend und schreibend in Sprache artikulieren kann. Man erschrickt, wenn man lesend begreift, wie sehr die Aneignung und das Bewahren von Sprache und Sprechen zum Überleben verhelfen können – die bange Frage taucht auf, ob wir heute der Sprache gegenüber noch achtsam genug sind – haben wir noch Poesie und Sprachwelten genug im Kopf, wenn es ums Überleben geht?
Die Berichte über die Selbstbehauptung im Lager gehören zum Eindrucksvollsten im Werk von Rafik Schami.  Der Erzähler, der um den zauberischen Reiz des Erzählens und die geistige Magie des Zuhörens weiß, versteht auch viel von der befreienden Energie der Sprache. In Not und Kampfessituationen kann uns die Sprache als Selbstverteidigungswaffe helfen. Rafik Schami zitiert den Kalligrafen Mu’awíja:
„Mein Schwert ziehe ich nicht, wenn meine Peitsche reicht, und auch die nicht, wenn meine Zunge genügt.“

Rafik Schami benutzt seine Zunge, um zu erzählen, um Menschen zum Zuhören zu verführen und sie ins Lauschen zu bannen. Es ist das gesprochene Wort, das ihn fasziniert, die Musik des Sprachklangs, der Rhythmus des Sprechens. Erzählen ist untrennbar mit dem Zuhören und untrennbar vom Respekt vor dem Zuhörenden.
Es ist herzerfrischend, dass er Zunge sagt für Sprache – Zunge – Lingua – das hat  im Deutschen einen poetischen Klang.

„Die mündliche Erzählkunst – schreibt er – kann uns viel geben, kann uns ermuntern, die Sprache zu genießen, den Klang der Worte zu schmecken und dem anderen Respekt entgegenzubringen. Man kann sich alles Mögliche ansehen, aber man hört nur dem konzentriert zu, den man respektiert. Das Mündliche kann Welten durchs Ohr genießen, Paradiese für den Augenblick entstehen lassen, sie übers Ohr verinnerlichen. Das Mündliche kann Stimmung erzeugen, die keine Zeile Text für sich genommen, erzeugen kann. Erst die Stimme, das Ohr geben den Worten Leben, Zauber.“

Das Erzählen  gehört zur Tradition seines Landes ebenso wie die Gastfreundschaft. Zwei Traditionen, die im Leben in der Wüste wurzeln: die Freundlichkeit gegenüber Fremden und die Lust am Bewirten haben beide auch mit dem gemeinsamen Sprechen zu tun – mit dem Erfinden von Geschichten, mit deren Zauber sich neue Welten erschaffen lassen. Die Imagination wird beflügelt. Miteinander reden heißt sich gemeinsam in einen Phantasieraum hineinzubegeben, den man zusammen gestaltet – erzählend und zuhörend im Wechsel. Es ist die Funktion der Kunst – ihr wunderbarer Zauber, dass sie die selbst erlebte Wirklichkeit in der Imagination fortführt und multiple Welten eröffnet. Robert Musil nennt diese Funktion der Kunst, die Schaffung eines Möglichkeitssinnes. Alles kann immer auch anders gedacht und gesehen werden. Der Alltagsblick ist zweckgebunden, die Kunst befreit die Zeichen des Alltags von Zweck- und Zielgerichtetheit und öffnet sie zu einer Vieldeutigkeit, die uns neugierig macht auf das Ausprobieren pluraler Deutungen, Sichtweisen und Aneignungen. Lesen literarischer Texte ist ein lustvolles Durchspielen von Lesarten, das die Phantasie zu immer neuen Varianten anregt. Das Fremde wird spannend und wirkt bereichernd auf denjenigen, der sich öffnet und wissen will, was den anderen geprägt hat, was ihn bewegt. Die Reaktion auf eine fremde Geschichte weckt Emotionen und Reflexionen zugleich. Das Schöne daran ist, dass man zugleich sich selbst und die eigenen Wurzeln und Erfahrungen wahrnimmt, wenn man sich in den Dialog mit dem Kunstwerk begibt. In diesem Dialog entsteht ein Spiel, ein spielerisches Ausprobieren des Fremden und des Eigenen – die Fähigkeit zum Spiel macht das Denken und das Fühlen erst frei für Unerwartetes und Neues. Dafür wirbt Rafik Schami in seinen Texten mitreißend. Das Erzählen liebt er aus seiner Kindheit, Damaskus ist für ihn die Stadt der 1001 Geschichten. Jedes Fenster erzählt eine Geschichte, in jeder Gasse wimmelt es von fremden Geschichten, die erzählt zum poetischen Spaziergang werden – das Wort „Ohrfilm“ hat Rafik Schami dafür auch geprägt.

Er geht mit offenen Sinnen durch eine Stadt – ob Damaskus oder Frankfurt – er ist neugierig auf die Bilder, die Klänge und Sprachfärbungen, die wabernden Gerüchte, die Düfte und die Gerüche:  alles sinnlich Wahrnehmbare erfüllt ihn mit Geschichten. Die Stadt ist ein Theater mit vielen Bühnen für ihn. Das gefällt mir so, weil ich selbst ein Buch über Kulturpolitik geschrieben habe mit dem Titel „Stadt ist Bühne“. Mit großem Charme offeriert uns Rafik Schami diese Geschichten – er berührt damit auch etwas, was uns so schmerzlich oft fehlt bzw seit der Kindheit abhanden gekommen ist: die Wahrnehmung des Fremden mit Sympathie – zu spüren, dass das Andere die Bereicherung des Eigenen  ist. Es ist das Fremde, das unsere eigene Welt vielfältiger macht und damit uns zugleich das Eigene bewusst werden lässt.
Wir brauchen Orte, an denen die Zuwendung zum Fremden mit Sympathie selbstverständlich ist, für mich sind es die Orte der Kultur, die Orte gemeinschaftlichen Erlebens – bei Lesungen, beim Zuschauen von Theaterspiel, beim Hören von Musik und beim Betrachten von Bildern. Für Rafik Schami ist es – damit hat er mich erstaunt und begeistert: der Flohmarkt, wo sich die Welten verbinden. In seinem Buch „Die Sehnsucht der Schwalbe“  beschreibt er den Flohmarkt in Frankfurt als einen solch offenen Raum der Begegnung, wo sogar die Deutschen das Feilschen – wenn auch stümperhaft – üben, das Feilschen,  das für Araber die Kunst ist, „aus einer Sackgasse eine Kreuzung zu machen“  – wie Rafik Schami so wunderbar schreibt. Ich will nicht die Sätze vorenthalten, mit denen Rafik Schami den Flohmarkt beschreibt:
„Möglicherweise stimmt die Geschichte, dass der Flohmarkt der einzige Ort ist, wo sich die Kinder Babylons treffen und einander verstehen. Doch sobald sie den Ort verlassen, verfolgt sie der göttliche Fluch und sie sind einander wieder fremd.“

Dieser göttliche Fluch nach dem Turmbau zu Babel ist die schlimmste Geißel der Menschheit, die Geißel des Sich-nicht-verstehens. Damit schlagen wir uns täglich rum. Mit lachendem weinendem Auge wunderbar erzählend erneuert Rafik Schami diese Erkenntnis und macht das Verstehen des Fremden zu einer wunderbaren Sehnsucht nach der Vielfalt der Welt. Rafik Schami kann lachen und zugleich versteht er augenzwinkernd viel vom „Wetzen der Zunge“ – wie er es nennt. Er attackiert Missstände in seinem Heimatland, er attackiert Missstände in Deutschland, wo er lebt – offen, aber niemals mit böser Zunge. Auf eine sehr heitere Art lässt er uns das Energiefeld der Kunst erfahren.
Ob unterhaltsam erzählt oder gedichtet, ob mit unerhörten Klängen oder Melodien, ob mit Farb- und Formexpression oder mit eigenwilligem Blick auf Wirklichkeiten, ob irritierend und verzerrend oder heiter und spielerisch subjektiv gestaltet –  was die Sprachen der Kunst wirklich ausmacht ist nicht abzutun mit dem Wort „schön“, die Kunst muss aufrütteln, bewegen, rühren, jedenfalls nicht gleichgültig lassen. Dann wirkt sie als Aufruf zur Freiheit und als Basis, auf der Mut gedeiht – Mut, sich einer intensiven neuen Erfahrung preiszugeben, Mut zum eigenen Urteil, Mut, sich mit eigenem Denken zu Wort zu melden, Mut zum Widerstand, Mut zur Rebellion, Mut, sich auf Fremdes einzulassen. Der Respekt vor dem Fremden gebietet Beachtung, Offenheit und Neugier – mit Sympathie erfüllte Neugier.

„Die Gleichgültigkeit ist so furchtbar in ihren Folgen, so mörderisch wie die furchtbarste Gewalt“ , schreibt Manès Sperber.
Gleichgültigkeit treibt uns die Begegnung mit den Künsten auf wunderbare Weise aus. Sich in ein Werk verwickeln,  sich hineinreißen zu lassen verändert Fühlen, Denken und Handeln, deckt trügerische Paradiese auf und sensibilisiert zum Enttarnen von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Gewalt.

Eines der Leitmotive in Rafik Schamis Werk ist das Spiel als kreativer Impuls:
Spielen kann nur derjenige, der sich in die Welt des Spielens versenkt. Das bedeutet, dass er von der eigenen Welt absehen muss. Im Spiel, in das man sich versenkt, spielen „weder Religion, Hautfarbe noch ethnische Zugehörigkeit oder politische Überzeugung eine Rolle“13 , sagt Rafik Schami. Die Chance der Befreiung durch Kunst entsteht auch dadurch, dass wir durch die Begegnung mit der Kunst für einen Moment von unserer eigenen festgefügten Welt absehen. Wir verlassen unseren Alltag und dessen festgezurrte Regeln. Zurückgekehrt aus der Begegnung mit einem Kunstwerk verändert sich die eigene Weltsicht, auch der Blick auf die eigene Umgebung und auf sich selbst. Da ist etwas eingesickert – eine neue Erfahrung ist aufgebrochen, von der in jedem Fall die Erinnerung an ihr Erleben – ob bewusst oder nicht – bleibt. Einmal von sich abzusehen, ist eine große Chance, den engen Alltagshorizont zu erweitern. Die Kunst ermöglicht uns in ihrer Pluralität der Möglichkeit, einmal von uns selbst, dem eigenen Leben, dem eigenen Alltag, der eigenen Zweckgerichtetheit ab zu sehen. Damit öffnet sie uns die Chance, anders zu werden, uns zu verändern.

Diese Veränderung der Weltsicht betrifft die Geschichten von Menschen, die wir durch die Literatur erfahren, andere Erlebnisse, andere Gefühle, andere Handlungsweisen werden bewusst – insofern wirkt das Erzählen von Geschichten, von Einzelschicksalen im Kontext der Geschichte gegen das alltagsübliche Vergessen.  Die Geschichte erhält erst durch die Literatur gedächtnisfähige Bilder und Gestalten. Solche Bilder und Gestalten aber schreibend zu entwickeln, erfordert vom Schriftsteller Mut, die eigene Sichtweise der Geschichte auszusprechen. Für die Rezipienten entwickelt sie den Mut zu eigener Meinung und zur Äußerung der eigenen Meinung, auch wenn sie vom gesellschaftlichen Konsens abweicht – oder vom staatlich verordneten Denkschema.

Kunst muss den Mut zur eigenen Meinung stärken. Darin liegt die Freiheit, die überhaupt erst Frieden ermöglicht, weil eine offene Debatte in einer demokratischen Gesellschaft das einzige ist, was Kriege verhindern kann. Eine lernende Gesellschaft ist beständig im Dialog mit den Meinungen aller: der Duckmäuser, der Mutigen, der Quertreiber. Künstler beziehen aus der Genauigkeit ihrer Wahrnehmung und der Unabhängigkeit ihrer Meinungsäußerung ihre friedensstiftende Kraft in einer Gesellschaft – vorausgesetzt, es ist erlaubt, ihre Werke zu lesen, sie zu hören, ihre Stücke auf Bühnen anzuschauen. Manches Mal führt der Weg, gehört zu werden über ein lebenslanges Exil wie bei Rafik Schami. Der Erfolg seiner Werke aber hat ihn auch in den arabischen Ländern hörbar werden lassen. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist lebenswichtig für eine Gesellschaft. Da nur die Freiheit in Demokratien die Debatte der inneren Konflikte zu führen zulässt, ist die Demokratie eine wichtige Grundlage für die Vermeidung von öffentlichen Hetzkampagnen und Krieg. Kunst kann die Zeichen dafür setzen, Totalitarismen, Unfreiheit, Ungerechtigkeit aufzudecken und ihnen eine laute – schreiende – Absage zu erteilen.
Rafik Schami tut dies mit besonders charmanter Schärfe – Danke dafür!“

Prof. Dr. Christina Weiss, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien a.D.

Dankesrede von Rafik Schami

„Meine Damen und Herren,

Ich danke der Jury für den wunderbaren  Preis „Gegen Vergessen und für Demokratie“.  Er ist für mich wie ein Geschenk des Himmels, denn seit Ausbruch der Revolution in meinem Land am 15.3.2011 betrachte ich es als meine erste und größte Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Westen die tapferen Frauen und Männer in meinem Land nicht vergisst, die mutig und mit offenen Händen der brutalen Gewalt des syrischen Regimes Widerstand leisten.

Vergessen ist der Zwillingsbruder der Gleichgültigkeit. Beide bauen eine unsichtbare, aber hohe Mauer des Schweigens um das Land und ermöglichen so der Diktatur das isolierte Volk niederzumetzeln. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid ganzer Völker ist wiederum der schlimmste Feind von Freiheit und Demokratie im eigenen Land. Die Gleichgültigkeit macht die Menschen ihrer eigenen Freiheit unwürdig. Sie macht sie zu Komplizen und passiven Helfern des Unrechts. Demokratie und Freiheit nehmen dadurch Schaden. Die Gleichgültigen spüren nicht einmal, wenn Demokratie und Freiheit im eigenen Land gefährdet sind.

Man fragt mich immer wieder in Interviews. „Was soll der Westen tun? Soll die Türkei oder die Nato eingreifen?“ Meine Antwort lautet: „Nein, das wäre eine Katastrophe für Syrien.“

Ich muss dem Westen nicht zeigen, was nahe liegt und machbar ist, er weiß das: offene und mutige Solidarität. So wie er großartig hinter den Aufständischen in Polen stand, obwohl damals eine nukleare Supermacht namens Sowjetunion der Gegenspieler war. Ohne den Westen wäre Solidarnosc in 24 Stunden kalt gemacht worden. Es wäre rettend für die syrische Revolution, wenn der Westen deren Führung, den Nationalrat, einladen, anhören, kritisieren und bestärken würde. Der Vorsitzende des Nationalrates, Burhan Ghalioun, ist ein Professor an der Sorbonne, ein großartiger Vordenker. Vielleicht macht Bremen den Anfang und ermutigt Berlin zu einer längst fälligen Geste gegenüber den tapferen Syrern, die bisher 4000 Märtyrer und über 40.000 Gefangene zu beklagen haben.

Meine Damen und Herren,

Preise sind für mich immer eine willkommene Oase, bei der ich eine Rast mache und nachdenke, einen Blick zurückwerfe und Pläne schmiede, bevor meine Karawane wieder in die Wüste aufbricht. Mir half nicht nur das Preis-Geld bei der jahrelangen Erfolglosigkeit am Anfang meines literarischen Weges, sondern vor allem die Anerkennung, die verhindert hat, dass meine Verzweiflung zu Bitterkeit wurde.

Die Anerkennung gab mir Rückendeckung, die ich brauchte im Kampf gegen die Diktatur in meinem Land und gegen deren deutsche Nutznießer, die im Dienste dieser Diktaturen, uns das Leben hier schwer gemacht haben.

Heute freut mich der Preis noch mehr, obwohl ich inzwischen großen Erfolg habe. Die Anerkennung bleibt nach wie vor ein Grund der Freude. Für einen Autor im Exil zählt sie doppelt, weil sie ihm sagt, hier hast du ein Zuhause in der Sprache und im Herzen der Menschen gefunden. Also mach weiter und lass das Jammern!

Meine Freude rührt aber auch daher, dass ich in Absprache mit meiner Familie beschlossen habe, alle Preise, die ich bekomme, an engagierte und bedürftige Menschen und Organisationen zu spenden, da wir durch die Sympathie meines deutschsprachigen Publikums genug gegen die Härte der Zeit geschützt sind.

Erlauben Sie mir bitte zwei Minuten lang über die Empfänger zu sprechen, denen Sie mit dem Geld helfen werden, danach werde ich Sie gut unterhalten.

Meine Damen und Herren, am 15. Oktober, ist die syrische Revolution sieben Monate alt geworden. Sie ist der erste Aufstand in meinem Land, den mein Volk friedlich gegen eine gewaltsame, brutale und hochbewaffnete Diktatur führt. Diesen Aufstand haben Kinder in der Stadt Daraa im Süden von Syrien angezettelt. Sie sprayten arglos unsere Wut auf die Mauern. Sie wurden verhaftet und bestialisch gefoltert, unter der Aufsicht eines Cousins des Präsidenten, der in dieser Stadt den Geheimdienst leitete. Das war den Eltern zu viel. Sie rebellierten gegen den Assad-Clan, der Syrien zur eigenen Farm erklärte und uns Syrer zu Sklaven unter der Aufsicht von über 15 Geheimdiensten. Diesen und anderen bedürftigen Kindern werden wir über Umwege Medikamente, Spielzeug, Bücher und Kleider bringen, damit sie wieder zu ihrem Lachen finden.

Ein Teil des Geldes bekommt Die Internet Wochenzeitung „Syrian Safahat (arab. syrische Blätter)“. Sie ist eine der besten oppositionellen syrischen Internet-Wochen-Zeitungen. Ihr Gründer ist der Dichter und Journalist Hussein al Scheich. Ich unterstütze diese Zeitung seit ihrer Gründung und ihr Chefredakteur ist inzwischen ein guter Freund. Er opfert alles für diese Zeitung, lebt arm in Finnland und träumt mit mir von einem demokratischen Syrien. Neben meinen Kolumnen stehen auch Kolumnen meiner Gegner, und das ist für mich eine Übung in Sachen Demokratie und Meinungsfreiheit. Denn in dieser Zeitung habe ich gelernt, dass sich mein Wunsch diese Gegner mögen „unsere“ Zeitung nicht auch nutzen, als Zwillingsbruder der Erwartung erwies, sie mundtot zu machen.

Ein dritter Teil  geht an das Archiv der Jugendkulturen Berlin. Mein Freund Klaus Farin, ein engagierter Schriftsteller und Journalist, hat  1998 ein „Archiv für die Jugendkulturen“ in Berlin gegründet. Er und sein Team sammeln seit Jahren alle Materialien über das, was die Jugend bewegt und stellen es allen Schülerinnen und Schülern, Jugendlichen, Forschern und Journalistinnen zur Verfügung. Ich denke, das ist eine effektive und ernsthafte Möglichkeit, den Rassismus und Neofaschismus in all seinen Erscheinungsformen, nicht nur nach Anschlägen, sondern permanent zu bekämpfen. Das Archiv ist unabhängig wie die Jugend sein sollte und freut sich über Fördermitglieder und Spenden, weil es damit besser arbeiten kann. Inzwischen ist es eine Stiftung geworden. Ich war, vom ersten Tag an, ein Freund des Archivs und bin auch Fördermitglied.

Ich weiß, meine Damen und Herren, was sind schon 2000 oder 3000 Euro Hilfe? Viele werden sagen, ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber als erfahrener Koch und Chemiker kann ich Ihnen garantieren, dass  die Begegnung von einem heißen Stein mit einem Wassertropfen Dampf erzeugt, und zwei Tropfen erzeugen mehr Dampf, und viele Tropfen bewegen die Lokomotive der Menschlichkeit vorwärts.

Auch sollten wir uns bei der Gelegenheit daran erinnern, dass ein reißender Fluss nur aus vielen kleinen Tropfen besteht.“